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SCV-News | 21. Januar 2013

Bewegende lyrische Klangwelten – SCV-Neujahrskonzert mit dem KammerChor Saarbrücken

Zum Neujahrskonzert am 13. Januar in der Stiftskirche Saarbrücken-St. Arnual präsentierte der Saarländische Chorverband mit dem 1990 gegründeten KammerChor Saarbrücken einen der bedeutenden Chöre Deutschlands mit ausgezeichnetem internationalen Ruf. Dass man diesmal auf die traditionelle Gepflogenheit, mehrere Chöre unterschiedlicher Gattungen auftreten zu lassen, verzichtete, lag darin begründet, dass man den Auftakt des SCV-Jubiläumsjahres 2012 bereits als Festkonzert mit dem KammerChor Saarbrücken ins Auge gefasst hatte, was aber wegen unüberwindlicher Terminschwierigkeiten nicht zustande kam. So bildete das Neujahrskonzert 2013 gewissermaßen auch den Ausklang des großen SCV-Jubiläums im vergangenen Jahr und verwies mit hohem Anteil zeitgenössischer Chormusik auf Zukünftiges.
Der große gemischte KammerChor unter Leitung seines Gründers Georg Grün, seit Oktober Professor für Chorleitung an der Hochschule für Musik Saar, eröffnete das Konzert in der gutbesuchten Stiftskirche mit Weihnachtsliedern von Peter Cornelius. Mit „Die Hirten“ und „Die Könige“ in Transkriptionen von Clytus Gottwald, dargebracht mit feinfühliger Dynamik und ausgewogenem Gesamtklang, der sich im gotischen Kirchenraum transparent entfalten konnte, schloss man zugleich musikalisch die Weihnachtszeit ab.
Dann ein jäher Schwenk zu dem auf Rilke-Versen gründenden „Sonett an Orpheus“, das der 1931 geborene schwäbische Komponist Arthur Dangel in Zwölftontechnik „für Violine und Stimmen“ komponiert hat. Dies tat er für den renommierten Kammerchor Stuttgart (Frieder Bernius), der eine neue Herausforderung suchte. Wie Dangel den Rilke-Text in den Tönen verbarg, demonstrierte Georg Grün vorab, indem er die Verse auf das Spiel der Violine (Helmut Winkel) rezitierte. Was folgte, war ein gefühlsmäßiges Wechselbad, das im Dialog der Violine mit dem Chor, aus dem abwechselnd einzelne Stimmgruppen hervortraten, entstand, ein Hin und Her, Rauf und Runter, das auch im Zusammenklang mit dem Sakralraum eine ganz eigentümliche Schönheit entfaltete und mit leisem Endton der Violine erstarb.
Kontrastierend – und damit zugleich auf die breitgefächerte Versiertheit des Chores verweisend – folgten zwei Werke aus der alten Musik, „I was glad“ von Henry Purcell, ein Anthem zur Krönung des englischen Königs James II, zusammengesetzt aus Versen des Psalms 122 aus den Psalmen Davids, anschließend von Heinrich Schütz die berühmte Motette „Die mit Tränen säen“, ebenfalls mit Versen aus den Psalmen Davids (Nr. 126).
Gemäß dem Konzerttitel „Und wieder rauscht mein tiefes Leben lauter…“ ging es weiter mit Chorwerken, die das Fortschreiten des Lebens, Frühling und Herbst, Kommen und Gehen, Anfang und Abschied thematisierten. Zunächst folgte ein Ausflug in die Romantik mit eher getragen-verhaltenen Stücken: „Einklang“ und „Resignation“ aus den „6 geistlichen Liedern“ von Hugo Wolf, wunderbar fließend vertonte Eichendorff-Verse, die in sehnenden Naturbildern auf den Herbst des Lebens anspielen, dann das großartig angelegte Werk „Frühlingsblick“ von Max Reger auf gleichsam sehnende Naturverse Nikolaus Lenaus über den Frühling des Lebens. Zwei romantische Liebeslieder von Robert Schumann schlossen sich an, das melancholische „Im wunderschönen Monat Mai“ und das lebhafte „Die Rose, die Lilie“, beide nach Versen aus dem „Buch der Lieder“ von Heinrich Heine.
Dann wieder ein kontrastierender Schwenk zu Zeitgenössischem mit „Tuul konnumaa kohal“ und „Kanarbik“ des 1930 geborenen estnischen Komponisten Veljo Tormis, Beschreibungen eines kalten, unbarmherzigen Windes über einer kargen Herbst- oder Winterlandschaft, die in der expressiven Gestaltung durch den KammerChor auch in dem mittelalterlichen Gemäuer ihre Wirkung nicht verfehlten. Überhaupt hat sich der Chor im Bereich der experimentellen und avantgardistischen Chormusik mittlerweile einen Namen „ersungen“. Das belegen unter anderem auch Uraufführungen von Chorwerken, die Komponisten eigens für den Chor geschrieben haben. Auch beim Neujahrskonzert gab es eine solche Uraufführung: das von dem Schweizer Komponisten Carl Rütti (*1949) komponierte „Und wieder…“ auf Rilkes Gedicht „Fortschritt“ – dessen erster Satz den Titel für das Konzertprogramm gab. Rilkes Gedicht hat einige prägnante Bilder, die sich Rütti in seiner Komposition vorgenommen hat, etwa „wie auf Fischen stehend“, ein Bild, mit dem das Stück viel arbeitet. Georg Grün erläuternd hierzu: „Wir hören und singen ständig wechselnde Rhythmen, die sich auch zum Teil überlagern und zum Teil abwechseln, und wenn es gut läuft, hört man ein scheinbar völliges Durcheinander, das aber zusammengenommen eine sehr schöne Darstellung des Textes ergibt.“ Damit hatte er keineswegs zuviel versprochen…
Der KammerChor Saarbrücken nutzte den Auftritt auch zur Vorstellung seiner neuen CD: Clytus Gottwald – Hymnus an das Leben. Transkriptionen für gemischten Chor a cappella mit Werken u.a. von Schumann, Brahms, Liszt, Cornelius, Ravel und Debussy. In der zweiten Konzerthälfte blieb er bei Zeitgenössischem mit Heinz Holligers „Herbst“ und Györgi Ligetis 16-stimmiger Phantasie „Hälfte des Lebens“, eine Vertonung des von fast trostloser Härte geprägten gleichnamigen Gedichtes Hölderlins. Zum Finale erklang das wohl verrückteste Stück des Abends, das 2011 vom Finnen Perttu Haapanen komponierte „Readymade Alice“. Für seine Komposition hat Haapanen das Wort „Alice“ ins Internet eingegeben und vom Ergebnis ausgewählte Einträge vertont. Herausgekommen sind dabei Dinge wie: Alice ist ein Engel, Alice heißt ein Police Departement, Alice ist eine nicht näher bezeichnete Telefonfirma, Alice ist ein sehr alter Vampir, Alice ist alles Mögliche… Georg Grün: „Und so klingt das Stück auch.“ Der Chor musste dabei unter anderem zischen wie eine Schlange, mit ätzendem Grollen der – hervorragenden – tiefen Männerstimmen die Unterwelt beschreiben oder exaltierte Solostellen gestalten. Und weil man Georg Grün zufolge „beim ersten Hören nicht sehr viel mitbekommt“, performte der Chor das Stück gleich zweimal hintereinander.
Gewiss keine leichte Kost, doch wer sich darauf einließ, der wurde reich belohnt, dem wurden Ohren und Sinne geöffnet für erstaunliche, komplexe und unerwartete Klangwelten, für außergewöhnliche klangliche Möglichkeiten des Instrumentes Stimme im Kontext des choralen Ensembles, wie man sie nicht so häufig hört. Der KammerChor Saarbrücken bot jedenfalls Überwältigendes und bestach durch Intensität in seinem Vortrag. Dazu meisterte er souverän die teilweise sehr hohen Anforderungen der dargebotenen Literatur – zurecht lobte die Saarbrücker Zeitung die „dynamische Subtilität“, das „Fingerspitzengefühl auch für feinste Nuancen“ und „die (scheinbare) Leichtigkeit, mit der sich satztechnische Feinheiten und differenzierter Stimmeinsatz gegenseitig ergänzten“ (SZ 16.01.2013). Ob man nun erbaut oder aufgewühlt das Konzert verlies, unberührt davon blieb wohl kaum einer.

Infos zu Chor und Chorleiter:
www.kammerchor-saarbruecken.de
www.georggruen.eu

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